NEON – OKTOBER 2008
„Der Zynismus hat mich fast vernichtet."
Was?
Die Studenten-BRAVO ist tot. Schon Mitte April 2018 gab die NEON-Chefredakteurin Ruth Fend – inzwischen selbst nicht mehr im Verlag tätig – im für die Zeitschrift typischen, um Worte ringenden Duktus bekannt: „Für die gedruckte NEON ist es die wirtschaftliche Perspektive, die nicht mehr vorhanden ist.“
15 Jahre NEON. Lange war es eine Erfolgsgeschichte und die begann so (Dirk Peitz, ZEIT Online):
„Als die Süddeutsche Zeitung im ersten richtigen Zeitungskrisenjahr 2002 das gedruckte jetzt-Magazin aus Kostengründen sterben ließ, stellten bald darauf zwei der drei letzten leitenden Redakteure des Wochenmagazins dem Verlag Gruner + Jahr die Idee zu einem Monatsmagazin vor, dass sich im Gegensatz zur Beilage jetzt am Kiosk würde behaupten müssen.“
Zielgruppe
„Das Konzept von NEON, das Timm Klotzek und Michael Ebert dem Verlag verkauften, war einerseits eine behutsame Fortsetzung von jetzt, nur dass es sich statt an 15- eher an 25-jährige Leserinnen und Leser richtete, also gleichsam an die, die ungefähr 1980 geboren und dem jetzt-Magazin da schon entwachsen waren. Andererseits schufen sie einen Titel, der mehr noch als jetzt ein Wir-Gefühl propagierte (deren Macher waren auch ein bisschen zu alt, um zu 15-Jährigen noch ‚Wir‘ sagen zu können). Dieses ‚Wir‘ war glaubhaft, das belegt der rasante Erfolg im ersten Jahrzehnt des Bestehens von NEON.“
„NEON war der am besten und präzisesten gemachte Nischen-Lifestyle-Titel aller Zeiten in diesem Land“, schreibt Michalis Pantelouris auf Übermedien und erklärt:
„Aufgrund seiner Verkaufszahlen wirkte er, als hätte er Massen-Appeal, aber die Masse war in Wahrheit die einer komplett ausgeschöpften Nische. Das ist eine unfassbare Kunst, ein bisschen so, als würde man ein Auto nur für Bielefelder entwickeln. Es klingt absurd, und wahrscheinlich würde man es nicht zugeben, sondern lässig so tun, als könnten auch Wittener und Bremer in dem Auto glücklich werden, aber in Wahrheit ist es nur für Bielefelder – und wenn alle Bielefelder eins kaufen, ist es ein gigantischer Erfolg. Aber dafür muss es für die Bielefelder mehr sein als nur ein gutes Auto. Es muss ihr Auto sein.“
Peitz konkretisiert:
„NEON bediente das stets gleiche Lebensgefühl von jungen Menschen vage zwischen 20 und 30 immer wieder aufs Neue, statt sich nur an ein Geschlecht zu wenden und zugleich mühsam die alte Illusion aufrechtzuerhalten, Magazine besäßen noch eine Nähe zu Stars und könnten weiter glaubhaft als Traummaschinen funktionieren. Diese Zeit war vorbei. Wer damals die NEON kaufte, wusste stets, was er oder sie bekam; und dass man auf Augenhöhe angesprochen wurde. Geträumt wurde durchaus, aber nicht von Hollywood, sondern vielleicht von einer endlich mal romantischen Beziehung.“
Eine kurze Meldung auf der Website der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt die Vermutung zu, dass die Schüler, die einst jetzt lasen und als Studis zur NEON griffen, die großen Lebens- und Liebesfragen aufgrund biologischer Tatsachen als adoleszente Fata Morgana vorerst beiseitegelegt haben: „Nido, ein seit 2009 publizierter Ableger für junge Eltern, wird fortgesetzt.“ – allerdings schon seit Mai 2017 mit einem auf ein zweimonatliches Erscheinen gedrosseltem Turnus.
Auflage
Schon die letzten paar Jahrgänge der NEON könnte man wohl vernachlässigen, wenn man Martina Kix glaubt, die für ZEIT Online ebenfalls ihre Erinnerung aufschrieb (die einer Leserin, die zur Mitarbeiterin wurde):
„[Es] gab neue Chefredaktionen, neue Art-Direktoren, erst ein sogenanntes Rebrush, dann ein Relaunch. Erst setzte man auf die Themenbereiche Food und Spießigkeit, dann auf Coolness und Hipster. Nichts schien zu funktionieren. Auch ich war eine von mehreren, die gingen. Mit dem letzten Heft schrumpfte die Auflage auf 58.000 Exemplare, und mit einem Magazin des Fernsehmoderators Joko Winterscheidt namens JWD brachte Gruner + Jahr ein neues Magazin für eine ähnliche Zielgruppe raus [es wurde den NEON-Abonnenten sogar mit der letzten Ausgabe zugeschickt, der Leser].“
Doch bei Erscheinen der hier besprochene Ausgabe – Oktober 2008 – war die NEON mitten im kometenhaften Aufstieg . Die monatliche Auflage überstieg monatlich 200.000 Exemplare.
Inhalt
Rubriken wie ‚Wilde Welt‘ oder ‚Fühlen‘ gaben der NEON eine klare Struktur. Unter ‚Fühlen‘ erschienen die so oft gelesenen wie verschmähten „Befindlichkeitstexte“. Diese unterscheiden sich in Umfang nicht von den Reportagen, die man unter ‚Sehen‘ fand und deren hervorragende Qualität auch darauf zurückzuführen war, dass es sich dabei oft um Übersetzungen aus angelsächsischen Qualitätsmedien handelte – in dieser Ausgabe Nicholas Carrs kontrovers diskutierter Essay ‚Is Google Making Us Stupid‘ aus dem Atlantic.
Auch sonst bietet die NEON hier solide journalistische Qualität. Der Granddady des flotten, deutschsprachigen Reisejournalismus Helge Timmerberg schreibt über das Wüstenwandern in Marokko (Rubrik ‚Kaufen‘). Nur wenige Seiten später – in der Rubrik ‚Freie Zeit‘ – beantwortet der berühmte Romancier Christian Kracht die ausführlich geratenen Fragen über Popliteratur zur vollsten Zufriedenheit des Lesers: „Die provozierenden Gesten waren ja damals schon erschlafft. Wir haben einfach Anzüge getragen, das galt dann als unseriös, dass Kulturschaffende plötzlich aussehen wollten wie Bankangestellte.“
Zweimal im Jahr erschien eine NEON-Ausgabe im Wendecover. Das Shooting für die Herbst/Wintersaison 2008 dieser Ausgabe wurde verknüpft mit einer der beliebtesten Rubriken, nämlich den ehrlichen Kontaktanzeigen. Singles offenbaren mit einem Steckbrief („Das sagt der/die Ex“, „Ich kann gut/kann nicht“, „Wenn ich betrunken bin …“) ihre schlimmsten Charaktereigenschaften; hier dann gekoppelt mit Shootings in Kleidung ökonomisch darbender oder längst bankrotter Modemarken wie American Apparel, Bench oder H&M.
Verdikt
So vergeht die Zeit; zumindest ein bißchen, fast zehn Jahre. Hoffentlich haben Adrian und Fabian, Josefin und Ann-Kristin in Hildesheim, Greifswald oder Hamburg ihren Weg gefunden. Sie sind jetzt wohl eher bei Instagram und Tinder, haben erste Falten und zweite Kinder. Es heißt Adieu für ihre Jugend und die Zeitschrift, die möglicherweise ihre Gedanken, Sorgen und Hoffnungen so hervorragend zum Ausdruck brachte – und die für den Pressemarkt vielleicht das war, was Judith Holofernes für die Rockgeschichte ist: Reflektiert, aber mit viel Gefühl.