Flugblätter der Weissen Rose – V, Januar 1943
„Zerreisst den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt!"
Was?
Der Vorteil an Flugblättern ist, dass sie fliegen können. Ihr ursprünglicher Weg sich zu verbreiten, ist inspiriert vom natürlichen Verhalten der Vögel an scheinbar unvorhersehbare Orte zu gelangen, das heißt ohne direkten Adressat. Ähnlich der Flaschenpost, die sich wie die Wasservögel schwimmend an ihr Ziel bewegt, ist das Sendeverfahren von Freiheit bestimmt und vom Vertrauen der Urheber darin, sofern sie das Flugblatt im Bewusstsein dieser Freiheit verwenden.
Wo eine Mehrzahl an Menschen im Denken und Fühlen unfrei ist, bedeutet lebendige Freiheit die Bedrohung jenes Mainstreams, der auf Angst- und Machtstrukturen aufbaut, statt auf einem bewussten Entwicklungsprozess und einer Vision von Freiheit im Alltag. Das Flugblatt nahm so im 20. Jahrhundert eine periphäre Position ein, um solche Lösungswege aufzuzeigen.
Die ersten Einblattschriften tauchten im Spätmittelalter auf. Ähnlich den heutigen Zeitungen zählten sie zum Warenangebot von fahrenden Händlern auf Märkten oder vor Kirchenportalen. Für die einfache Landbevölkerung waren sie kaum erschwinglich. Im Dreißigjährigen Krieg entwickelte das Flugblatt politische Breitenwirkung. Der Nachfolger, unser heutiger Flyer ist in kleinen, wie großen Formaten noch selten politisch und dient meist dazu Termine für Events und Werbung zu streuen. Er findet sich an vielerlei öffentlichen Orten in den Städten und Dörfern der westlichen Welt.
Persistenz
Zu den bekanntesten Flugblättern zählen die Schriften der Widerstandsgruppe Weiße Rose. Anfang Juni 1942 entwarfen der 23-jährige Medizinstudent Hans Fritz Scholl und sein ein Jahr älterer Kommilitone Alexander Schmorell erste Textskizzen. Schreibmaschine und ein schlichter Matritzendrucker waren ihr Werkzeug, außerdem Papier, Umschläge und Briefmarken – in der reglementierten Kriegswirtschaft Hitlerdeutschlands allesamt Mangelware.
Rund hundert Exemplare des gemeinsamen Textes versandten sie unter dem Titel Flugblätter der Weissen Rose in der letzten Juniwoche. Nur wenige Tage später registrierte die Gestapo das erste von einem Empfänger abgegebene Exemplar. Wer der beiden Freunde am ersten Flugblatt den größeren Anteil hatte, ist ungewiss. Hinweise geben Aussagen der Beiden vor der Gestapo nach ihrer Verhaftung im Februar 1943. Die Protokolle zeigen, dass Hans Fritz Scholl zunächst probierte die Rolle seines Kommilitonen kleinzureden, um ihn zu schützen.
Vermutete Zielgruppe
Aus den Verhörprotkollen geht bezüglich der Adressatenliste der ersten Flugblätter hervor, dass Beide darauf bestanden, die Adressen willkürlich aus Telefon- und Adressbüchern ausgewählt zu haben. Darüber hinaus erklärte Hans Fritz Scholl, dass einige Gastwirte auf der Empfängerliste für das erste Flugblatt standen.
„Ich wollte die intelligentere Schicht aufrufen und wandte mich daher hauptsächlich an Akademiker und so weiter. Auch an einige Münchner Wirte habe ich diese Blätter adressiert. Ich wollte damit erreichen, dass sie populär werden, denn ich hoffte, dass die Wirte es an ihre Gäste weitererzählen würden.“
Die Liste der Empfänger, so Scholl, habe er vernichtet und könne sich auch nicht mehr daran erinnern. Eine weitere Aussage, die deutlich macht, wie sehr der junge Student bemüht war, seine Mitmenschen zu schützen
Inhalt & Turnus
Klar und genau sind die Botschaften des ersten, intellektuell anspruchsvollen Flugblatts, dass sich direkt an die Lesenden wendet. „Vergesst nicht, dass ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt!“, ist darin zu Beginn zu lesen, und: „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen.“ Darauf folgen eindeutige Zitate von Schiller und Goethe. Wer in Besitz eines solchen Flugblatts war und von der Gestapo entdeckt wurde, war in Lebensgefahr.
Zwei weitere Flugblätter erschienen im Wochenrhythmus. In der dritten Schrift wird zu aktivem Widerstand aufgerufen:
„Sabotage in Rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben, Sabotage in allen Versammlungen, Kundgebungen, Festlichkeiten, Organisationen, die durch die nationalsozialistische Partei ins Leben gerufen werden. (…) Sabotage auf allen wissenschaftlichen und geistigen Gebieten, die für eine Fortführung des gegenwärtigen Krieges tätig sind. (…) Sabotage in allen Veranstaltungen kultureller Art, die das ‚Ansehen‘ der Faschisten im Volke heben könnten. Sabotage in allen Zweigen der bildenden Künste, die nur im geringsten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen und ihm dienen.“
Das vierte Flugblatt schließt mit den Worten: „Die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe.“
Kurz darauf, Ende Juli 1942 wurden Schmorell und Scholl als Sanitäter zur Ostfront berufen. Im Oktober kehrten sie zurück und fanden neue Unterstützer mit Sophie Magdalena Scholl, der jüngeren Schwester Hans Scholls, Willi Graf, Mediziner aus München und Christoph Probst, ebenfalls Medizinstudent und früherer Schulfreund Hans Scholls.
Von nun an fand der Widerstand verstärkt im öffentlichen Raum statt. Flugblatt fünf und sechs wurden ausgelegt und nicht mehr nur verschickt. Die einfache, klare Sprache zielte auf die breite Masse der Bevölkerung. Hinzu kam eine Aktion, in der die Weiße Rose das Wort „Freiheit“ an Wände in der Stadt schrieb.
Auflage
Das sechste Flugblatt legten sie am 18. Februar im Hauptgebäude der Ludwig-Maximillians-Universität aus. Bei dieser offenen Aktion wurden sie entdeckt und verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte Hans Scholl, bei dem ein Entwurf für das siebte Flugblatt gefunden wurde, seine Schwester Sophie Magdalena und Christoph Probst, zum Tod.
Am 22. Februar 1943 wurden die drei hingerichtet, einige Wochen später ebenso Alexander Schmorell und Kurt Huber, Musikprofessor an der Uni München. Er stand der Gruppe beratend zur Seite. Seine Papiergaben ermöglichten, dass sich die Auflage des fünften und sechsten Flugsblatts von wenigen 100 auf mehrere 1.000 vervielfachte, etwa 6.000 bis 9.000.
Verdikt
Indem wir als Menschen etwas ausdrücken, bringen wir das zum Ausdruck, was in unserem Inneren vorgeht. Wenn jeder ohne nachzudenken das sagt und tut, was alle anderen sagen und tun, dann stehen die, die sich mit ihrem eigenen Herzen und ihren eigenen Gedanken kümmern um die Welt, nicht mehr alleine am Rand. Denn ihr Widerstand ist Ausdruck für ein liebendes Denken, das keine Grenzen kennt, weder soziale, noch nationale, noch kulturelle. Die Periphärie weist hier auf eine neue Mitte, die niemanden ausschließt und neue Formen eines Zusammenlebens basierend auf Frieden und Klarheit erprobt.
Sind wir heute etwa tatsächlich in der Lage, Menschen, an die wir denken, denen wir begegnen in der Welt, in unseren Träumen, von denen wir in der Zeitung lesen, wirklich mit einer Position zu begegnen, die liebevoll und klar ist, ohne irgendeine Erwartung, im Bewusstsein, dass wir bloß unsere subjektive Wahrnehmung haben? Ist diese Position naiv, gar irreal? Gibt es nach wie vor nicht bloß eine einzige Katastrophe in unserer Welt, nämlich dass die Menschen nicht genug lieben können, weil wir Angst davor haben unser Herz für Realitäten zu öffnen, die womöglich neu wären für uns oder sich vielleicht bloß so anfühlen, weil wir sie vergessen haben?
Das Potential, selbstbewusst ein bedingungslos friedliches Miteinander zu leben, ist jederzeit möglich. Ebenso ist eine Politik des Mitgefühls, in der es keine Gewinner und Verlierer mehr gibt, keine Utopie, weil sie bei uns selbst beginnt.
Wir werden nicht geboren, um zu leiden, sondern um zu blühen. Die Weiße Rose ist ein schönes Beispiel dafür.
Sebastian Polmans, geboren 1982 in Neuwerk, ist Autor, Illustrator und Musiker. Für seine Arbeiten erhielt er unter anderem das Rolf Dieter Brinkmann-Stipendium 2016. Aktuell arbeitet er an einer Grundschule, gemeinsam mit Flordemayo und Kitzia Kokopelmana an einem Kinderbuch und schreibt an seinem zweiten Roman, mit dem er für den Alfred-Döblin-Preis 2017 nominiert war.