SIBYLLE 6/89
„Auf meiner Arbeitsstelle hatte ich immer noch nicht mehr zu verlieren als meine ... na ja, früher sagte man: Ketten. Und das Angebot, wenn ich so tat, als nähme ich es ernst, konnte meinen Chefs endlich einmal deutlich machen, welcher phantastische Kader da als kleiner Helfer ihrer großen Ideen unermüdlich an seinem Schreibtisch tätig war. (Hui! Merken Sie wie ein getretenes Herz heimlich Rache schreit?)“
Was?
Durchaus gab es feingeistige Publizistik in der DDR und nicht nur Parteipresse. Als naheliegendes Beispiel herangezogen wird oft die Literaturzeitschrift Sinn Und Form. Ein anderes – in der ostdeutschen Provinz kaum erhältliches und in den Metropolen rasch ausverkauftes – Druckerzeugnis war die Sibylle, Zeitschrift für Mode und Kultur.
Ihren Namen erhielt sie von der 2016 verstorbenen, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Pariser Exil nach Deutschland gezogenen Jüdin Sibylle Boden-Gerstner. Sie prägte die Sibylle nicht nur mit ihrem Vornamen, sondern in den Anfangsjahren auch als stellvertretende Chefredakteurin. Doch der von ihr geprägte kosmopolitische Ansatz (Mode nicht nur aus Moskau und Prag, sondern auch aus Paris, Florenz und New York) war ab 1961 in Ost-Berlin nicht mehr haltbar.
Folgend wurde die Sibylle zur Spielweise einer Generation von Fotografen, die mit ihrer Modefotografie – selten Stangenware, sondern Unikate mit beigegeben Schnittmustern – die künstlerische Bildsprache Ostdeutschland wesentlich prägten. Arno Fischer oder Sibylle Bergmann machten ihre Fotos nicht im Atelier, sondern draußen auf der Straße. Damit reproduzierten sie nicht nur Fashion-Ideen. Sie schufen eine bildliche Vermessung des kleinen, abgeriegelten zweiten Deutschlands, das, so Anja Maier, „unfassbar schöne Orte hatte.“
Da es nicht um politische Inhalte ging und die Sibylle nur alle zwei Monate erschien, konnte die Redaktion trotz staatlicher Reglementierung realtiv frei agieren. Bröckelnde Mauern im Hintergrund, waren von offizieller Seite zwar nicht gerne gesehen, erinnert sich die Redakteurin Monika Oppel, aber auf den Seiten der Sibylle auch nie verboten.
Persistenz & Auflage
Ähnliches schon gehört, trotzdem immer wieder traurig: Es kam die Wende, ein westlicher Verlag investierte, halbjährliche Pause und Rückkehr mit neuem Layout, Dumpingpreis, aber Kleider mit Preisangaben von 45.000,- DM. Relaunch wurde Bauchlandung: Auflageneinbruch um 85 % auf 20.000 Exemplare innerhalb weniger Monate, Management-Buyout, weiter kein Erfolg, Ende mit Ausgabe 2/95 ohne Ansage, aber nach 39 Jahren endgültig.
Inhalt & Layout
„Dass die Sibylle auch heute noch so ein gutes Standing hat, selbst in westlichen Redaktionen, lag vor allem an ihrer ungewöhnlichen Art, Frauen und Mode darzustellen – jedenfalls für den Osten. Das hatte nichts Tristes, nichts sozialistisch Verklemmtes. Das Markenzeichen der Zeitschrift war ein starkes Frauenbild, selbst die Models hatten Persönlichkeit. Natürlich auch Modelmaße. Aber sie waren nicht erst vierzehn und trugen Kleidergröße null. Große Ausnahme: Mit dieser Zeitschrift war die DDR dem Westen weit voraus.“
So erzählte es später einer der Fotografen dieser Ausgabe und Berghain-Türsteher Sven Marquardt. Seine hier abgedruckten Bilder der späten 1980er lassen bereits die Abgründigkeiten ahnen, die er rund anderthalb Jahrzehnte später auf Film bannt. In der bleierernen Zeit kurz vor der Wende führte er einen neuen Stil ein, den Andreas Kraese in der Einleitung des wunderschönen Ausstellungskatalogs ‚Sibylle 1956-1995‘ folgendermaßen beschreibt:
„Obwohl der alltagsbezogene Fotografierstil in der Sibylle immer noch seinen Platz behauptete, war der Alltag selbst durch Mangel und Verfall soweit entwertet, dass die Entwirklichung der Bildszenen und -inhalte zu einer anhaltenden Tendenz wurde. […] Sehr viel weiter gingen die Inszenierungen von Sven Marquardt, die in ihrer düsteren Ausstrahlung keinen Konsens mit dem verbrieften Auftrag der Sibylle mehr anstrebten, sondern eine Art Endzeitstimmung verbreiteten.“
Preis
Trotz einer durchschnittlichen Verteuerung im Einzelhandel der DDR von 3 Prozent ab 1974, konnte die Sibylle von 1971 bis zum Mauerfall den Verkaufspreis stabil halten:
„DDR 2,50 M
Ungarn 103,00 Forint“
Werbung
Anders als bei Mode-Zeitschriften in kapitalistischen Systemen sind keine doppelseitigen Anzeigen in die 200 Seiten zwischen Titelblatt und Inhaltsverzeichnis gequetscht. Genau genommen gibt es gar keine doppelseitigen Anzeigen.
Ausschließlich auf der U4 wird für eine Bekleidungslinie aus Frottiererzeugnissen des VEB Frottana Großschönau geworben (ausgezeichnet mit dem 1. Preis im Gestaltungswettbewerb der Baumwollindustrie um den Preis der Modejournalisten 1988).
Im Innenteil gibt es außerdem eine Anzeige für die Pflegelinie Patras.
Verdikt
Bei der Lektüre einiger Ausgaben wird klar welche publizistische Artistik die Redaktion der Sibylle vollbrachte. Das konnte nach dem Sieg des Kapitalismus weder fortgesetzt, noch gerelauncht werden – oder um es mit Anja Maiers viel treffenderen Worten zu sagen:
„Nachdem 1989 die Mauer gefallen war, versuchte ich mal was Neues und kaufte mir Frauenzeitschriften. Es war ein ödes, in Teilen erniedrigendes Unterfangen. Ich blickte in aalglattte Gesichter, deren dazugehörige Körper in faltenfreie Kleider gesteckt waren. Ich las kopfschüttelnd Ratgebertexte über den Wiedereinstig ins Berufsleben nach zehnjähriger ‚Familienpause‘. Ich versuchte eine Zeit lang, Interesse an Diäten zu entwickeln. Es war alles nutzloser, mühsamer Mist, bar jeder Rauheit und Inspiration. Ich war verdorben. Schuld daran war letzlich: die Sibylle.“
Eine Ausstellung widmet sich derzeit der Zeitschrift und ihren prägenden Fotografen. Sie ist noch bis zum 17. April in der Kunsthalle Rostock zu sehen. Vom 30. August bis 26. November gastiert sie im Westen, in den Opelvillen Rüsselsheim.