BRAVO – Nr. 8, 13. Febr. 1997
„Als ich letztes Jahr erfuhr, daß Take That sich trennen, brach für mich eine Welt zusammen. Ich wusste keinen Ausweg mehr und wollte mich umbringen. Einen Monat zuvor hatte ich mir das Take That-Logo auf den Po tätowieren lassen ...“
Was?
Wuchtvoll ist ein passendes Adjektiv für diese Zeitschrift – wuchtvoll in der lächelnden Star Power, wuchtvoll in der kreischenden Buntheit der Seiten und wuchtvoll im Gewimmel unterschiedlichster Schrifttypen.
Die ebenfalls wuchtvolle jahrzehntelange Rolle des Dr. Sommer-Teams in der sexuellen Aufklärung deutscher Teenies wird nicht Thema dieses Textes. Auch die Foto-Lovestory spielt hier keine Rolle; genausowenig wie der Film Foto-Roman, das Horoskop, der Psychotest oder die Witze & Cartoons. Obwohl gerade solches Themen-Potpourri die 62 dicht befüllten Seiten dieser BRAVO-Ausgabe charakterisiert, widmen wir uns hier den restlichen 20 Seiten. Es sind die Seiten, auf denen die BRAVO Musikjournalismus bietet.
Ursprünglich 1956 als Film- und Rundfunkzeitschrift gegründet, schrieb man in der BRAVO ab den frühen 1960er Jahren immer mehr über die britischen Beat-Bands. Die von der BRAVO organisierten Konzertreisen der Rolling Stones (September 1965) und der Beatles (Juni 1966) festigten den Status der Zeitschrift als führendes Teenager Pop-Organ.
Auflage
Kurze Zeit nach diesen Tourneen ging die Auflage erheblich zurück. Sowohl die Beatles als auch die Stones waren immer mehr anspruchsvolle Kunstprojekte und weniger dienlich als Blaupause für romantische Teenager-Träume. Oftmals war die BRAVO „sehr abhängig von einzelnen Stars“, wie Jens Schröder in einem Artikel für den Branchendienst Meedia schrieb. Diese Tatsache bescherte dem Kiosktitel von 1960 bis 2000 immer wieder enorme Absatzschwankungen.
Bevor der Boyband-Hype endgültig vorbei war, der Markt für Jugendzeitschriften sich immer mehr diversifizierte und das Internet schlussendlich dafür sorgte, dass solche Magazine immer schlechter liefen, war es wieder eine ganz bestimmte Band, die ein letztes Mal für Rekordverkäufe an den Kiosken sorgte: die Kelly Family.
Titel
Die Ende der 1970er Jahre gegründete Band hatte bereits mehrere Alben bei Polydor veröffentlicht, wo sie in weiß-grüner Tracht mit internationalen Volksliedern erste Erfolge feierte. Der frühe Tod der Mutter war nicht nur für ihre zwölf Kinder ein tiefer Einschnitt. Für den Vater führte es zu einer neuen Geschäftsstrategie. Man trennte sich vom Majorlabel. Mitte der 1980er gab es wenig Schallplattenveröffentlichungen. Durch Straßenkonzerte bestritt man ein Leben, das jedoch weitaus weniger prekär war als gemeinhin angenommen.
Vater Dan Kelly, der seinen Kinder ein Nomadenleben bot, war immer wieder Ziel von Kritik. Sowohl von außen – er hielt sich nicht an die Schulpflicht und man munkelte über sein hartes Regime – als auch von innen – denn streng musste er sein, um den Laden am Laufen zu halten. Die Aussagen der Geschwister sind dabei unterschiedlich. Während die Jüngeren in der Öffentlichkeit ausnahmslos gute Worte für ihren Vater finden, sind die älteren Geschwister, die bereits in den 1980er Jahren größere Verantwortung für den Fortbestand des Familienunternehmens trugen, in Interviews deutlich differenter.
Glich das Geschäftsmodell der Kelly Family bis 1993 noch dem eines selbstorganisierten Kleinstadt-Tingelzirkus, waren die Band Ende 1994 mit dem 9fach Gold-Album ‚Over The Hump‘ auf dem deutschen Pop-Olymp angekommen. Im Vergleich zu den frühen 1980er Jahren war die Bühnenkleidung weniger förmlich, mehr der Second Hand Mode angelehnt, die zu dieser Zeit ohnehin angesagt war. Das Bandlogo blieb im Schlagermarkt der späten 1970er Jahren verhaftet.
Die BRAVO half eifrig mit beim Popstar-Building. Schließlich ließen sich endlose Geschichten zu den vielen Geschwistern erzählen. Anders als die Backstreet Boys, Boyzone, N-Sync und die Spice Girls waren die Kellys keine reinen Interpreten, also Bühnenkünstler, die nur singen und tanzen. Die Kelly Family spielte neben einigen Volksweisen aus dem frühen Programm vor allem Selbstkomponiertes. Die zum Zeitpunkt dieser Ausgabe über 20jährige Band-Geschichte bot genug Material, um ein einmaliges Aufstiegs-Epos entfalten zu können. Aufgrund des ehelichen Fleißes von Dan und Barbara-Ann Kelly konnte man neben dieser Historie trotzdem noch junge Gesichter bieten.
Das Hausboot und das Schloss Gymnich, wo die Familie lebte, waren Blaupause für Pipi Langstrumpf Fantasien der Fans. Das familieneigene Label Kel-Life, auf dem sie seit 1985 ihre Musik publizierten, hatte 1997 mehrere hundert Mitarbeiter.
Inhalt
Es wäre ungerecht gegenüber der BRAVO und ihren damaligen Lesern, die Kelly Family als einzige „echte Band“ in dieser Ausgabe darzustellen. So war man vor den Britpop-Königen Oasis auch in dieser BRAVO nicht gefeit. Sie werden in der Reportage über Drogen als besonderes Negativbeispiel genannt. Die CD der Woche ist das neue Offspring Album, das laut Rezensent „Super-Powerpunk für die Charts“ bietet. Auch No Doubt, die bereits in den frühen 1990er Jahren erste Platten im Szenekontext veröffentlichen, waren veritable Musiker.
Die Band Bush wurde als neue Grunge-Sensation verkauft, obwohl sie sich weder in den späten 1980er Jahren, noch in Seattle, geschweige denn in den Vereinigten Staaten gegründet hatten und bisher keinen einzigen Song auf dem Sub Pop Label veröffentlichten. Der ausgelutschte Begriff Grunge wurde aber auch noch drei Jahre nach Kurt Cobains Selbstmord von der BRAVO-Redaktion angewendet, um neue Rock-Fans zu generieren.
Verdikt
20 Jahre später ist wegen der großen Nachfrage die Reunion der Kelly Family in der Dortmunder Westfalen-Halle auf inzwischen drei Konzerte verlängert worden. Der Hype wird der BRAVO nichts mehr nützen. Deren Berichterstattung widmet sich nun oft YouTube Stars, die kein Instrument spielen, ja noch nicht mal singen und tanzen, sondern allenfalls ein Handy besitzen. So ist das mit der Jugend von heute: Nie macht sie es einem nie recht; auch nicht den Verlagen. Die Herausgabe von Jugendzeitschriften wie der BRAVO in diesem Technikzeitalter ist ganz sicher so verlorene Liebesmüh‘ wie das Anhimmeln von Poster-Boys.