Diskus 70 – 4/2014
„Wir haben die Kostendeckung als Minimum.“
Was?
Die Redaktion der nach Eigenangabe „vermutlich ältesten kontinuierlich erscheinenden Gefangenenzeitung in der Bundesrepublik“ befindet sich in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bremen.
Andreas Galdia vom pädagogischen Dienst, der die Arbeit des Diskus 70 organisatorisch unterstützt, erzählt folgende Gründungslegende: Die ersten Nummern wurden 1970 ohne Kenntnis der Anstaltsleitung per Schreibmaschine vervielfältigt, dann von Zelle zu Zelle gereicht. Galdia ist sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entspricht. Er habe so etwas von einem ehemaligen Mitarbeiter gehört.
Diskus 70 wird von zwei Insassen der JVA Bremen produziert. Durch die Redaktionsarbeit können die Häftlinge Geld verdienen, wie zum Beispiel auch durch Arbeit in der Schlosserei. Es scheint aber nicht unbedingt eine ruhige Kugel zu sein. Ernst Stuhl beschreibt in Disput (die Mitgliederzeitschrift der Linken) seine Arbeit bei Diskus 70:
„Recherchen werden zum Kraftakt, wenn der Zugang zum Internet verboten ist und nur der Gang in die Bücherei bleibt. Bestenfalls können hin und wieder mal die ehrenamtlichen Vollzugshelfer um eine Recherche gebeten werden. Das kostet Zeit, doch davon haben diese Redakteure ja genug.Telefonieren geht nur mit einer vom eigenen Geld bezahlten Telefonkarte. Und das auch bloß in den öffentlichen Telefonzellen der Anstalt. In den Redaktionsräumen sind Telefone nicht erlaubt. Befürchtet wird Missbrauch.“
Galdia fügt dem hinzu, dass den Redakteuren eine Auswahl an Tagespresse zur Verfügung stehe. Internet wird indirekt genutzt. Ein pädagogischer Mitarbeiter der JVA würde Rechercheanfragen der Redakteure nachgehen.
Turnus
Vierteljährlich
Vermutete Zielgruppe & Auflage
Diskus ist das Modell eines Vorhängeschloss von ABUS. 600 der insgesamt 1.200 gedruckten Exemplare gehen kostenlos an die Insassen der JVA Bremen. Galdria interpretiert den Begriff Diskus hingegen als Signifikant für ein Objekt, das die Gefängnismauern überwinden kann. Hefte, die nicht an die Mithäftlinge gehen, werden
„an die Bürgerschaft, Gerichte, Staatsanwaltschaften und Rechtsanwälte, die Universität, Einrichtungen für Gefangenenhilfe und prinzipiell an alle Interessierten verschickt. Privatpersonen, die die Zeitung abonnieren, werden um eine Spende gebeten. Anwälte sowie soziale oder therapeutische Einrichtungen haben die Möglichkeit, mit kostenpflichtigen Anzeigen in der Zeitung für sich zu werben.“
Extra
Die pragmatischerweise auf die Umschlagseite 2 gedruckten Postenkartenmotive können sicherlich für eine erhöhte Ausgangspost vor den Festtagen sorgen.
Erwerbsgeschichte
Auf dem jährlichen Kongress der Berliner tageszeitung im Haus der Kulturen der Welt dürfen sich Verlage, Initiativen und Ökostromanbieter präsentieren. Darunter war auch der Verein Freiabos für Gefangene, der sich um eine entsprechende Versorgung von Häftlingen durch Presse bemüht. Die Wartelisten sind lang. Als Lockmittel für Interessenten und potentielle Spender lagen entsprechende Hefte auf dem Tisch, von dem ich dieses behalten durfte.
Inhalt
Chain Gang könnte immer noch ein guter Name für Knastis abgeben. Nur bedeutet es nicht mehr das Ball & Chain, wie es Gefangene des britischen Empires ab dem 17. Jahrhundert angelegt bekamen oder die Straßenarbeiter im Süden der Vereinigten Staaten. Der deutsche Häftling des 21. Jahrhundert legt sich das Eisen selbst an. Rauf und runter, rauf und runter. Auf sechs Seiten gibt es Trainingsanleitungen:
Was Ziel der Übung ist, zeigt die Bebilderung des Artikels über die Bildhauerwerkstatt.
Verdikt
Ob das Konzept Einschließen der Weisheit letzter Schluss ist, mag dahingestellt sein. Politisch weniger Engagierten bleibt der Galgenhumor. Kenne jemand, dessen Eltern als Krankenhaus und Gefängnisseelsorger gearbeitet haben. Eines Tages – beide waren auf Arbeit – klingelte das Familientelefon. Der Jüngste ging an den Apparat. Nein, die Eltern seien nicht da, sagte er: „Mein Vater ist Knast, meine Mutter ist im Krankenhaus.“