MAXIMUM ROCKNROLL – November 2002, #234
"There are too many other influences worth seeking out to stay eternally buried in the past. But to me that music still defines me, it's not going anywhere."
Was?
Punkrock 1978: War der Drops schon gelutscht?
Für manche war es erst der Beginn. Tim Yohannan hatte ab 1977 eine Radiosendung, 1982 gestateltete er den Beihefter des ‚Not So Quiet On The Western Front‘ Samplers, der die nordkalifornische Punkszene dokumentierte; im Sommer desselben Jahres erschien die erste Ausgabe seines Fanzines Maximum Rocknroll (MRR).
Yohannan war damals mit 37 Jahren weit über dem Altersdurchschnitt der meisten Punkbands, aber das hielt ihn von nichts ab. Als er 1998 an einer Erkrankung am Lymphatischen System verstarb, hinterließ er einen gut funktionierendes Netzwerk aus dem Magazin und dem Club 924 Gilman in Berkeley.
Zahlreiche Mythen ranken sich um dieses professionelle Fanzine, das nach wie vor jeden Monat erscheint. Die internationale Orientierung beispielsweise zeigt sich nicht nur im weltweiten Vertriebsnetz, sondern vor allem in den ‚Scene reports‘. Stilistisch kaum mehr als eine Aufzählung von Bands, Labels und Fanzines einer bestimmten Region, waren sie doch zumindest in den frühen 1980ern Jahren eine vortreffliche Dokumentation der Ausbreitung des Punk-Virus und Hilfsmittel zur Vernetzung und Selbstorganisation zugleich.
So international man sich orientierte, so integrativ war das MRR im Bezug auf die Mitarbeit. Kurz vor Yohannans Tod hatten rund 70 sogenannte Shitworker – Rezensenten, Auslieferer, Kolumnisten – einen Schlüssel zum MRR-Haus in San Fransisco. Diese Shitworker stehen im Impressum über den Koordinatoren, also den zwei oder drei festen Mitarbeitern, die im MRR-Haus leben und jederzeit Zugriff auf die wohl größte Punk-Plattensammlung der Welt haben. Diese reicht bis zu Yohannans Teenager-Zeit zurück. Jede Hülle ist an allen Kanten mit grünem Tape beklebt ist – zum einen als Stabilisierung der Cover und zum anderen als Vorsichtsmaßnahme gegen Diebstahl.
Die egalitäre Organisation des MRR war befeuert durch Yohannans unmissverständliche, ja fast rührende Haltung gegen Kommerzialisierung lauter, harter, junger Musik. Er beteuerte oft, dass es nicht um geschäftlichen Erfolg gehe. Vielmehr ist MRR ein inzwischen seit über 30 Jahren laufender Versuch, funktionierende Strukturen zu schaffen, jenseits derjenigen, die durch etablierte Politik und Big Business aufgenötigt werden. Man sah sich in der Szene der amerikanischen Westküste als Gegenpol zu dem einige Jahre früher gegründeten und kommerzielleren Flipside aus Los Angeles. Wirtschaftlich erfolgreiche Punkmusiker der Bay Area wie Jello Biafra, NOFX oder Green Day wurde mit Häme kurzer Prozess gemacht. Das brachte Yohannan, der bis kurz vor seinem Tod in der Poststelle der Berkeley University sein Geld verdiente, den Ruf des selbsterklärten Gralshüter des Punkrock ein.
Inhalt
Die Zugänglichkeit und Heterogenität des MRR zeigt sich inhaltlich schon auf den ersten Seiten in den Kolumnen. Manche Autoren arbeiten sich an einem bestimmten Thema ab, andere formulieren munter drauflos. Die Sonne um die sich alle drehen, ist die Szene.
Langzeitautor Felix Havoc ist in seiner politisch unkorrekten Einstellung mindestens so umstritten wie Tim Yohannan. In dieser Ausgabe erklärt er, wie man sich mit einem Label oder Mailorder zu ein festes Einkommen ermöglichen kann. (Im Abgleich mit Yohannans Agenda mutet das geradezu ketzerisch an.)
„Mein erster Rat an jeden, der geschäftsmäßig im Punk tätig werden möchte, ist der beste, den man in der ganzen Musikindustrie bekommen kann: Kündige nicht deinen Job! Das ist das Allerwichtigste.“
Jessica Mills schreibt über die Zerreißprobe, als Mutter Punk zu sein oder als Punk Mutter oder auch einfach nur so
Mutter:
„Die Verwandlung meine Tochter zu beobachten, wie sie sich von von einer hilflosen Ess- und Scheißmaschine zu einer unabhängigen, aufgeweckten Lernmaschine entwickelt, gibt mir unglaubliche Freude.“
Anonymous Boy ist homo. Das ist aber nicht sein einziges Thema:
„Wenn du Drogen noch nicht intravenös nimmst, dann fang‘ nicht damit an. Wenn du Drogen schon spritzt, dann musst du alles in deiner Macht Stehende tun, um damit aufzuhören. Warte nicht! Such‘ dir sofort einen Therapieplatz. Drogen sind tödlich, Drogen und Sex zusammen sind noch tödlicher.“
Titel & Inhalt II
Nach Meinung, Erfahrung und Appell gibt es ein wenig Politik, bzw Abdrucke von Zeitungsartikeln. Doch das wird überstrahlt von der inhaltlichen Kernkompetenz des Heftes, dem laienhafen Musikjournalismus in den Darreichungsformen des Interviews (Heftmitte) und der Rezension (Heftende).
Groß auf dem Titel angekündigt sind die Snobs, einer Bands aus Austin, deren Mitglieder zwischen 13 und 14 Jahre alt waren, als sie ihre einzigen zwei EPs auf einem Label namens My War Records veröffentlichten. Dann löste sich das Projekt nach alter Väter Sitte in Luft auf. Arwen Curry – sie gehörte ein halbes Jahr nach Yohannans Tod zur neuen Koordinatoren-Generation – geht in ihrer Kolumne auf das Phänomen dieser sehr, sehr jungen Band ein:
„Die Reaktion der Leute in meinem Alter, die heutzutage die neuen Bands von 14 oder 18 Jährigen anschauen, erinnern mich an meinen damaligen Skateboard-Freund und seine Freunde. Sie reagierten in einer Mischung aus kopfschüttelnder Anerkennung und Verzweiflung auf den hyperaktiven neuen Stil der jungen Skateboarder, die Anfang der 1990er in der Bay Area auftauchten. Nur knapp selbst kein Teenager mehr, fuhren sich mein Freund und seine Kumel nervös mit den Händen durch die strähnigen Haare, als gäbe es die Spuren einer einsetzenden Halbglatze zu entdecken.“
Eine Band auf der den Snobs entgegengesetzten Seite vom Punk-Altersspektrum waren What Happens Next? (auch schon vor zehn Jahren aufgelöst). Der Bassist Craig Billmeier berichtet über die Konzertreise durch Brasilien. All der Glamour und Wahnsinn einer DIY-Punkband mittelalter Herren auf Tour manifestiert sich in diesem Bild:
Auflage
Tim Yohannan spricht kurz vor seinem Tod von 15.000 Exemplaren. Sein Nachfolger Mike Thorn – später rausgeworfen, weil er eigene Schulden mit kostenlosen Anzeigen kompensierte – setzte im Jahr 2000 im Gespräch mit dem niederländischen Reflections Magazin 15.000 Exemplare als wünschenswerte Menge an. Über einen Freund habe ich den Kontakt zu einem der Mitarbeiter bekommen. Er schrieb mir, dass pro Ausgabe 8.000 Hefte gedruckt werden. Die Zahl der Abonnenten schwanke zwischen 600 und 800.
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Im Reflections-Interview schildert Thorn noch einmal die klare Politik:
„Tim hat ein Manual geschrieben. Es heißt ‚How to make Maximum Rock’n’Roll work‘ … Darin erfährt man, was man jeden Tag zu tun hat, aber auch anderes [… ] Zum Beispiel wird es niemals ein Hochglanzcover geben. Auch wenn das bedeuten würde, dass wir das Heft einstellen müssten. […] Es gibt keine Rezensionen und Anzeigen von etwas, was mit Major Labels zu tun hat. Das ist eine einfache Agenda und wir bleiben dabei, was auch immer das für Konsequenzen hat. Lookout Records haben beispielsweise gerade eine Vertriebsvereinbarung mit Sony getroffen. Also haben wir gesagt, dass wir Ihre Platten nicht mehr besprechen werden. Wir machen da keine Kompromisse. Lookout Records hat immer eine halbseitige Anzeige gebucht. Es ist das größte Format, was wir haben und das teuerste, aber das ist egal.“
Rund 2 Jahre nach Thorns Interview war die ganzseitige Anzeige eingeführt und kostete $ 400. Daran hat sich bis 2015 nichts geändert. Beim MRR ist es anders als beim Flipside. Nicht die großen Anzeigen von inzwischen zu Klassikern gewordenen Alben, machen eine alte Ausgabe so interessant, sondern die kleinen Verlautbarung interessanter oder auch vollkommen irrelevanter Aktivisten, die Ihre Chance sahen, Ihre Projekte für relativ kleines Geld einem internationalen Publikum vorzustellen.
Vermutete Zielgruppe & Erwerbsgeschichte
„Der beste Punkrock kam schon immer von den allergrößten Volltrotteln.“, sagte Yohannan mal. In meinen frühen Hardcore-Tagen wollte ich aber absolut nichts mit solchen Volltrotteln zu tun haben, womit bei uns in Aurich die Marktplatzpunks gemeint waren. Mir war das Saubermann-Image des Straight Edge Sounds mit Nike-Schuhen, Kapuzenpullover und 6-Milimeter-Frisur lieber.
Doch die Retrowelle des jungen 21. Jahrhunderts hatte ihre Morgendämmerung auch in der Hardcoreszene, wo ab 2000 der Sound der frühen 1980er wieder populär wurde. Plötzlich kamen T-Shirts mit skatenden Skeletten und Circle Pits wieder in Mode. Auf Äußerlichkeiten fixiert und jung konnte ich mich vor diesem frischen Wind nur schwer Deckung bringen. Bands wie What Happens Next? oder The Snobs sorgten dafür, dass ich kurz vor dem Abitur auch besoffen schnelle, harte Musik lieben konnte und meine fanatische Begeisterung für Saubermann-Hardcore einen erheblichen Dämpfer bekam. Zum allerersten Mal in Lohnarbeit stehend, begann mir das Selbstbild des konstruktiven Gesellschaftsverweigerer immer besser zu gefallen.
Durch regelmäßiges Gehalt konnte ich mir monatlich neue Platten zu bestellen. Das MRR wurde dann halt mal dazu gekauft. Keine Ahnung, wo ich diese Ausgabe aus dem Herbst 2002 besorgt habe; möglicherweise beim Münsteraner Mailorder Green Hell oder auf irgendeinem Konzert. Meine Leserschaft des MRR war in dieser Zeit zwar regelmäßig, sie dauerte aber kaum länger als ein halbes Jahr. Die Ausgabe aus dem November 2002 ist das letzte Exemplar was ich noch habe. Die anderen Hefte habe ich schon vor Jahren weggeschmissen oder verkauft.
Verdikt
Inzwischen ist die Ära des Post-Yohannan-MRR länger als die Wirkungszeit des Gründers. Thematisch und organisatorisch hat sich wenig geändert: Unmissverständlich underground, unmissversändlich anti-cooperate, leicht dilettantisch, aber immer aufgeräumt. Ein kleines Wunder, dass ein US-amerikanisches Musikmagazin in einem Milieu der leicht gegründeten und schnell aufgelösten Bands nun schon so lange existiert.
Oder wie ein Kumpel sagte: „Maximum Rocknroll sieht immer gleich Scheiße aus. Und jeden Monat ist die neue Ausgabe mit Sicherheit auf jedem Kontinent in irgendeiner Punkklitsche zu finden. Das ist doch schon beachtlich.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.