ROMAN-ZEITUNG 294
„Er war zufrieden mit seinem Schicksal. Es war vielleicht das letzte Rest Schicksal. Denn daheim war es einfach Leben, dort würde es endlich schicksallos sein.“
Was?
Die publizistische Idee hinter der Roman-Zeitung hatte einen pragmatischen kulturpolitischen Ansatz: In der DDR sollte die Versorgung mit Literatur flächendeckend sein. Deswegen nutzte der 2001 aufgelöste Berliner Verlag Volk und Welt die Vertriebsstrukturen der Presse. So brachte man Literatur auch in die Orte, wo es keinen Buchladen gab und kreierte außerdem ein Sammlerobjekt. Vor allem in Urlaubsorten lief der Absatz der Roman-Zeitung prächtig, so Heinz-Dieter Tschörtner – für 333 Ausgaben Redakteur dieser Reihe. Er nennt auch die Mischung, die das Erfolgsrezept der Roman-Zeitung war:
„Der Jahresplan sah in der Regel vier deutschsprachige und sechs ausländische Autoren vor sowie zwei Titel aus dem internationalen Erbe, darunter stets ein Krimi, ein historischer und ein utopischer Roman, immer etwas heiteres. […] Anspruchsvollere, weniger massenwirksame Titel mußten von attraktiveren gerahmt werden, nie durften russische Autoren aneinander folgen, die ‚Bonbons‘ mußten sorgsam platziert werden.“
Turnus
Monatlich
Auflage & Persistenz
Von der Roman-Zeitung erschienen mit Sondernummern zwischen 1949 und Oktober 1990 genau 500 Ausgaben. Über den Grad der Vervielfältigung gibt es unterschiedliche Angaben: Während Tschörner eine Auflage 91.000 Hefte pro Ausgabe nennt, rundet das ehemalige SED-Zentralorgan Neues Deutschland auf. Am 19. Oktober 1990 wird anlässlich der letzten Roman-Zeitung von „100.000 Exemplaren im Schnitt pro Heft“ berichtetet.
Haptik
Beim Befühlen der Roman-Zeitung erinnert das holzspanige Papier an alte Sinn Und Form-Hefte. Während man diese aber vom Grafischen Großbetrieb Völkerfreundschaft in Dresden produzieren ließ, wurde die Roman-Zeitung in Berlin gedruckt.
In der 51jährigen Existenz änderte sich sowohl das Layout als auch das Format. Seit 1952 blieb es bei der Größe von 15 x 22 – 24 cm. Von 1964 bis 1990 ist die Gestaltung bis auf einige kosmetische Änderungen so wie bei dieser Ausgabe von 1974.
Erwerbsgeschichte & Preis II
Für die Suche nach DDR-Memorabilien und alte Haushaltswaren ist das Angebot auf dem sonntäglichen Flohmarkt in Berlin-Friedrichshagen die richtige Anlaufstelle. Nur 10 Cent verlangte die geschäftstüchtige Verkäuferin pro Roman-Zeitung.
Inhalt
Im Autorenporträt auf der letzten Seite der Roman-Zeitung wird darauf hingewiesen, dass Seghers seit ihrem Beitritt in die KPD im Jahr 1928 „alle ihre folgenden Erzählungen und Romane dem Befreiungskampf des Proletariats und dem Aufbau des Sozialismus gewidmet“ habe. Marcel Reich-Ranicki schreibt 1973 in der Zeit vom „absoluten Denkmalschutz“, den Anna Seghers durch ihre frühe Hinwendung zum Kommunismus in der DDR genoss. Sonja Hilzinger spitzt es im Metzler Autoren Lexikon zu: „S.‘ Gegenwartsbewältigung als Autorin endet mit dem Aufstand von 1953 und Stalins Tod.“ Das impliziert die fehlende Relevanz der Texte, die Seghers in die letzten 30 Jahre ihres Lebens geschrieben hat.
Tatsächlich ist sie bis heute vorrangig als Exil-Literatin bekannt. Beide in der Roman-Zeitung zusammengefassten Erzählungen gehören zu diesem scheinbar irrelevanten Spätwerk. „Eine verklärt-reine Herbstlichkeit im Genießen und im Reifwerdenlassen, – im Warten, eine Oktober-Sonne bis ins Geistigste hinauf, etwas Goldenes und Versüßendes, etwas Mildes, nicht Marmor.“ ; So schilderte der Philosoph Friedrichs Nietzsche um 1900 seinen Eindruck von der ‚Novelle‘, jene Genreübung, die der 78jährige Johann Wolfgang Goethe wenige Jahre vor seinem Tod veröffentlichte.
Von Marmor kann man auch bei Seghers nicht sprechen. Das Bild von verklärter Herbstlichkeit trifft aber auch bei ihr zu. Zwar wurde ihr gegenüber nicht nur von Reich-Ranicki der Vorwurf starrer Treue zum Regime erhoben, sondern auch von jüngeren Kollegen. Doch weder Das wirkliche Blau noch Überfahrt geben einem das Gefühl eine stramme sozialistische Autorin zu lesen. Eher meint man seiner in der Welt herumgekommenen Oma beim ausschweifenden Erzählen beizuwohnen.
Die fast märchenhaft anmutende Erzählung Das wirkliche Blau (erstmals 1967 erschienen) folgt dem Töpfer Benito Guerrero, der Dorf und Familie verlässt, um an blaue Farbe zu kommen. Sie ist durch ein Handelsembargo gegen das weltkriegerische Deutschland knapp geworden. Doch genau für dieses Blau sind Benitos Töpferwaren sehr beliebt und immer mehr Kunden bleiben weg als sein Farbvorrat aufgebraucht ist. So wird die Handelsreise notwendig, die einer Odysse gleicht. Man nimmt an, Benito würde als ein Anderer zurückkehren. Das trifft aber nur bedingt zu.
Zu Überfahrt hat Wikipedianerin Hedwig Storch erst Ende April dieses Jahres einen sehr ausführlichen und akkuraten Eintrag erstellt. Eine weitere Zusammenfassung von ‚Überfahrt‘ scheint in Anbetracht dieser sehr guten Arbeit überflüssig. Doch der Vollständigkeit halber: Ich-Erzähler Franz Hammer bekommt auf einer Atlantiküberfahrt vom Passagier Ernst Triebel, einem deutschstämmigen aber in Brasilien aufgewachsenen Arzt, die Geschichte seiner Jugendliebe erzählt. Es geht um Kindheit, um Verlust, um das Leben zwischen den Kontinenten und natürlich auch um Goethe.
Seghers erhielt 1971 für Überfahrt den Nationalpreis I. Klasse. Mitte der 1980er Jahre, nach Seghers Tod, wurden Überfahrt und Das wirkliche Blau für das ostdeutsche Fernsehen verfilmt.
Verdikt
Ich muss Reich-Ranicki bei seiner Beurteilung von Seghers späten Prosawerken erstmal zustimmen: Es ist das Warten auf eine Pointe, die so richtig nicht kommt. So wie möglicherweise bei diesem Verdikt.