Cartouche # 4
„Niemand darf in der aufgeklärten Welt heute noch so ungestraft Liturgien abhalten wie Musiker auf der Bühne. Doch ohne festen Glauben trägt das Wasser nicht den Jünger und die Bühne nicht den Traum.“
Was?
Ein Musikheft im Format DIN A5, gemeinsam erschaffen von insgesamt 38 Beteiligten.
Auflage
500 Exemplare
Erwerbsgeschichte & Werbung
Neulich habe ich mich mit Philipp Goll getroffen und übers Schreiben und Publizieren gesprochen. Er hat mir vom Cartouche erzählt und vorgeschlagen mich und einen der 38 Beteiligten, nämlich dem Herausgeber Lukas Dubro bekannt zu machen. Sicher sei die eine oder andere Zusammenarbeit möglich, so Philipp. Und eine Zusammenarbeit war möglich. Sogar ein ganzes Gegengeschäft ist daraus geworden. Der Deal sah folgendermaßen aus: Eine ganzseitige Anzeige für den Leser in Cartouche und dafür wird das Heft rezensiert. So habe ich es mit Lukas abgesprochen und mit Helge Kramers schneller Hilfe die einzige Werbeanzeige in das Cartouche gebracht.
Am 21. September konnte ich mir in dem temporären Club Naherholung Sternchen in Berlin-Mitte mein Belegexemplar abzuholen. Das Ergebnis ist in Ordnung, obwohl bei einigen Exemplaren die Anzeige und der schmale Rahmen, der sie umgrenzt unten angeschnitten war. Trotzdem: Danke Philipp, Danke Lukas, danke Helge:
Haptik
Färbt das Cover ab? Zumindest wurde es in Butterbrotpapier verpackt, bevor man es mir an jenem Samstagabend aushändigte. Sowieso, was ist das für ein dünnes, weiches Papier?
Inhalt
Wer schreibt für das Cartouche und über wen wird geschrieben? Ein großer Anteil der Zu-Wort-Kommenden gehört zu dem Schlag Mensch, der in Berlin wohnt, vielleicht noch studiert oder studiert hat, dabei aber eigene Projekte macht. Vornehmlich wird Neukölln als Wohnort präferiert, aber man zieht auch gerne in den Wedding. Da mögen jetzt bei manchen Alarmglocken angehen, aber wer schon in irgendwelchen Städten und Stadtteilen eine Bewertungskriterium sieht, ist ja auch nicht ganz vorurteilsfrei.
In der ersten Hälften gibt es vor allem Interviews und vor allem mit Musikern. Das Interview mit dem Duo Easter ist in seiner Infantilität ganz witzig. Ich habe mal einige Videos von ihnen gecheckt, weil sie in dem Interview davon sprechen. Das Duo ist wohl auch ein Liebespärchen und sie filmen sich gerne und würden, wie sie im Interview sagen, am liebsten für jeden Song des Albums ein Video drehen. In der zweiten Hälfte von Cartouche überwiegen Musikrezensionen, Modefotografie, Bildhauerei, architektonische Gouachen und ein Text über den Liedermacher Dagobert, bei dem mir erst beim zweiten Lesen halbwegs dämmerte, dass er womöglich als Schmähung des Schweizer Gitarrendichters gemeint ist.
Es gibt außerdem eine lange Rezension zum Debütalbum des schwedischen Rappers Yung Lean. An einem Herbsttag an dem ich mich mit leichter Erkältung krank schreiben ließ, habe ich reingehört. Passt ganz gut zu der Zeit an dem die Sonne ihr Licht nur durch das Milchglas der Wolken abgibt und bei jedem kalten Windstoß goldene Blätter in die Pfützen rieseln, die schon seit Tagen nicht mehr wegtrocknen. Der Herbst ist da und Yung Leans Crew heißt Sad Boys. Der Ton der Rezension wird von einer Ernsthaftigkeit und einer Sprachvarianz getragen, die mir durch den regelmäßigen Konsum unzweideutiger grammatikalischer Schlichtheit von angelsächsischen Fanzines vollkommen unvertraut ist. Solche Fanzines hätten dem Alter des Yung Leans entsprechend geschrieben: „Great stuff by a young dude. Shit got done. Shit is dope. Check it out.“
Verdikt
Ich bin zu alt und zu uncool. Meine Nase ist nicht mehr im Wind, sondern oft über der Nagelschere, um den Wucherungen vor dem Atemwegseingang einhalt zu gebieten, damit überhaupt noch ein wenig Frischluft an mein Hirn dringt. Und je älter ich werde desto egaler wird Musik. Sie bringt mir vorrangig Freude in Form von Miles Davis Originalpressungen, die mir zwar gehören, die ich aber eh nicht hören kann, weil mein Plattenspieler im Keller steht und ich deswegen herunter geladene Demos von US-amerikanischen Ostküsten-Hardcorebands höre, die in billigem Werbesprech bei Twitter von den Musikern selbst beworben werden. Währenddessen hoffe ich, dass die viel zu teuren, nicht gehörten, daher geschonten Platten als Investment weiter in ihrem Wert steigen werden.
Cartouche hat mich ein wenig von diesem Trip runtergeholt. Das hätte ich erst nicht gedacht. Am Anfang war ich natürlich froh über das gemeinsame Geschäft, dann wurde ich vor allem wegen der Undercut-Frisuren des Pärchens von Easter etwas skeptisch und habe es nach einer ersten Lektüre lieber erstmal weggelegt. Nun habe ich es nach einigen Wochen noch mal hervorgekramt und manches nochmal gelesen. Cartouche hat mir Kram nahegebracht von dem ich vorher nicht wusste, dass er mich interessieren würde: Vor allem Yung Lean und die Londoner Skate-Kleinstfirma Blast Skates sind hier erwähnt. Letztere haben zwar erst ein Brett, ein Stickerpack, ein Shirt und ein Video in Netz am Start, aber dass der Leser dankenswerterweise in diese Nachbarschaft aufgenommen wurde, ist Ruhm und Ehre. Willkommen in Hipsterworld!
P.S.:
Da das hier eine halbe Werbung ist, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Vertrieb nun auch läuft und Cartouche an einschlägigen Berliner Verkaufsorten erhältlich ist.
P.P.S:
Pasta makes me smile.