Kursbuch – 1, 1965 – 7, 1966 – 10, 1967
„Es kommt kaum vor, daß sich von Mord zu Mord eine Einsicht steigert in die Bedingtheiten solcher Taten. Die gegenständliche Fülle der Nachrichten und die darin enthaltende Brutalität unterbindet die Reflexion. Das Bewußtsein bleibt leer. Und weil weder Höß noch Heydrich, noch Himmler, noch irgendein Rassenideloge oder I.G.-Generaldirektor auf der Anklagebank sitzt, wäre es immerhin denkbar, daß der Auschwitz-Prozeß für uns zu einem monströsen Wust von sensationellen Mordprozessen würde, und wir hätten damit nur noch als Konsumenten greller Schlagzeilen zu tun. Und die sind vergessen, sobald sie durch neue Schlagzeilen abgelöst werden.“
„Das Vokaublar dieser Überlebenden, wie unbelastet sie auch sein mochten, ihr Gehaben auf der Bühne, ihre wohlgemute Ahnungslosigkeit, die Unverschämtheit, daß sie einfach weitermachten, als wären bloß ihre Häuser zerstört, ihre Kunstseligkeit, ihr voreiliger Friede mit dem eigenen Land, all dies war schlimmer als befürchtet; Brecht war konsterniert, seine Rede war ein großer Fluch. Ich hatte ihn so noch nie gehört, so unmittelbar wie bei dieser Kampfansage in einer mitternächtlichen verschlafenen Wirtschaft nach seinem ersten Besuch auf deutschem Boden. Plötzlich drängte er zur Rückfahrt, als habe er Eile: ‚Hier muß man ja wieder ganz von vorne anfangen.'“
– aus Max Frischs „Erinnerungen an Brecht“
„daß etwas getan werden muß und zwar sofort
das wissen wir schon
daß es aber zu früh ist um etwas zu tun
daß es aber zu spät ist um noch etwas zu tun
das wissen wir schon
und daß es uns gut geht
und daß es so weiter geht
und daß es keinen zweck hat
das wissen wir schon“
– Der Herausgeber in seinem „Lied von denen auf die alles zutrifft und die alles schon wissen“
Was?
Das Kursbuch war „das wichtigste Verständigungsmittel der 68er“, behauptet der Zeitzeuge Peter Schneider. Thomas Schmid spitzt zu: Es „verband die deutsche Bahnpräzision mit dem linksintellektuellen Anspruch, genau zu wissen, wohin die Reise gehen und – noch war der Vulgärmarxismus etwas Exquisites – auch hingehen wird.“
Zuallererst war das Kursbuch aber eine Zeitschrift, die der Suhrkamp Verlag 1965 in enger Zusammenarbeit mit Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel aus der Traufe hob. Wie sollte es auch bei dem Namen anders sein, gab es ständig Streit um den Kurs dieser Publikation. Erst warf Suhrkamp hin, dann Enzensberger und erst sehr, sehr viel später warf der Zeit Verlag auch das Kursbuch hin. Endgültig wie es schien. Auf der Buchmesse kursierten nun Gerüchte über eine Wiedergeburt.
Turnus
Den Turnuse hält man entspannt: „Das Kursbuch erscheint in unregelmäßiger Reihenfolge, doch mit wenigstens vier Nummern im Jahr.“
Auflage
Von Kursbuch 1 druckte man erst 5.000 Stück, insgesamt dann – so Henning Marmulla in seiner frisch publizierten Doktorarbeit – 12.775 Stück. Später werden sogar Erstauflagen von 50.000 Exemplaren erreicht. Das behauptet zumindest der Einband von Kursbuch 13 vom Herbst 1968 (hier nicht enthalten).
Preis Inhalts-Verhältnis
Gesamtseitenzahl inklusive Titelblatt: Zwischen 200 und 212 Seiten
Ganzseitige Anzeigen: Zwischen zwei und neun Seiten. Irgendwann vor Kursbuch 7 hat sich der Rowohlt Verlag die Werbefläche auf Seite U2 gesichert:
Im Rowohlt Verlag erschien das Kursbuch dann auch zwischen 1990 und 2005. Das Filetstück von Anzeigenplatz wurde aber auch bis zur einstweiligen Einstellung der Publikation im Jahr 2008 nicht aufgegeben.
Preis: Einzelverkauf DM 8
Format: Größer und stämmmiger als ein normales Suhrkamp Taschenbuch
Preis pro Inhaltsseite: Im Schnitt vier Pfennige (West)
Erwerbsgeschichte
Unerwartet komfortabel war die Suche und der Kauf gut erhaltener Exemplare direkt am Computer. Ein herzlicher Dank gilt dem Chiemgauer Internet Antiquariat sowie dem Antiquariat Buchhandel Daniel Viertel in Limburg Lahn. Wer noch mehr Kursbuch für noch weniger Geld will, kann auch auf den zweibändigen Sammelband zurückgreifen, der einst bei Zweitausendeins erschien, aber inzwischen auch nur noch antiquarisch erhältlich ist.
Vermutete Lesergruppe
Damals: sicherlich einige FU-Studenten der damaligen Jahre.
Heute: Es eröffnet sich ein dermaßen anregendes Panorama früherer Gesellschaftszustände und -wahrnehmung, dass ich ungern den Leserkreis auf Literaturwissenschaftler eingrenze. Lieber lassen wir auch diejenigen herein, die inspiriert von Fernsehserien wie Mad Men plötzlich anfangen im kulturellen Fundus der 1960er Jahre herumzuschnüffeln.
Inhalt
Bei den insgesamt 640 Seiten Text darf man sich nur an Details aufhalten:
1. Eigentlich ist Kursuch 1 nicht die erste Nummer. Es gab schon eine 32seitige Vorabausgabe mit gekürztem Inhalt und exklusivem Goethe-Interview. Das pochende Sammlerherz nimmt diese Information als stechenden Schmerz wahr.
2. Die Nummer 7 erschien nur wenige Monate nachdem die Gruppe 47 ihr Princeton-Treffen hatte. Sicherlich ist bei dieser Ausgabe Namedropping am ehesten angebracht. Henrich Böll gibt mit dem „Brief an einen jungen Nicht-Katholiken“ eine Replik auf Günter Walraffs Bundeswehr-Recherche, die ja schon zwei Jahre zuvor auszugsweise in der twen erschien (und hier schon angesprochen wurde). Max Frisch plaudert aus dem Nähkästchen und zwar über den guten alten Bertie Brecht. Außerdem ist der Worthandwerker Günter Grass mit vier Gedichten dabei und konstatiert schon vor Wim Wenders und Helmut Höge, dass die Amerikaner unser Unterbewusstsein kolonisiert haben.
3. Kursbuch 10 ist mit Pressereaktionen zur vorherigen Ausgabe gespickt, in der es viel um „Haltungen des Protestierens“ ging. Die bürgerliche Presse zieht sehr über das Studentenorgan Kursbuch her. So richtige Protesttöne bemerkt man bei der Lektüre vom Kursbuch aber nicht. Stattdessen bemerkt man vielleicht eine Enzensberger-Lakonie im Text von Hans Magnus‘ Bruder Christian mit dem Titel: „Größerer Versuch Über Schmutz“. Der Kreis schließt wenn man weiß, dass Ulrich – noch ein anderer Enzensberger-Bruder – bei Erscheinen von Kursbuch 10 Bewohner der Kommune 1 war.
Titel
Verantwortlich für die Gestaltung zeigte sich der umtriebige Willie Fleckhaus. Suhrkamps Hofgrafiker hatte ja bereits die Gestaltung einer ganz anderen prägenden Zeitschrift übernommen, nämlich der twen. Kursbuch 10 ist die letzte Nummer in der ein farbiges Feld auf weißem Grund lag. Schon in Kursbuch 11 – es erschien im Frühjahr 1968 mit dem Schwerpunktthema „Revolution in Lateinamerika“ – wechselt man das weiß in ein Militärgrün. Danach geht es in allen möglichen Farben weiter. Kursbuch 13 kommt zum Beispiel mit dem Schwerpunkt „Studenten und die Macht“ in einem hübschen Maobibelrot daher.
Verdikt
Mit Kursbuch 11 änderte sich nicht nur der Farbverteilung des Titels. Von nun an wurde auch fast jede Ausgabe einem Thema untergestellt. Geplant war das schon länger. Man blieb vermutlich trotzdem bei der Parole:
„Kursbücher schreiben keine Richtung vor, sie zeigen Verbindungen an. Sie gelten solange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität. Danach bemißt sich ihre Erscheinungsweise“
Niemand liest Kursbücher von hinten nach vorne durch oder überhaupt durch. Es ist außerdem ein großer Unterschied in der Reisequalität ob man wartend die ruhige Einfahrt seines Zuges beobachtet oder nach einer heillosen Hetze nur noch das unerbittliche Schließen der Türen von außen sieht.