Die Post – Abendausgabe – Berlin, Montag, 29. Juni 1914

"Wenn man nach der Schuld an der furchtbaren Tat forschen will, so wird man zunächst die zügellose politische Verhetzung, wie sie den slawischen Völkern des Balkans eigen ist, ihren wilden, ungebändigten Fanatismus, der durch keine sittlichen Grundsätze eingeschränkt wird, dafür verantwortlich machen"
Was?
Die Abendausgabe einer Zeitung, die wohl nur noch Historikern ein Begriff ist.
Turnus
Zweimal täglich (!)
Preis-Inhalts-Verhältnis
Seiten inklusive Cover: Vier Seiten
Ganzseitige Anzeigen: Keine
Preis: „5 Pf.“ (10 Pfennig für die Morgenausgabe)
Format: Berliner Format
Preis pro Inhaltsseite: 1,25 Pfennig
Erwerbsgeschichte
Diese Post im Besitz von meinem Freund Alexander Sasse. Er hat sie von seiner Oma. Wie die Oma an die Zeitung gekommen ist, weiß niemand so recht.
Titel
Franz Ferdinand, der Kronprinz Österreich-Ungarns, ist ermordet worden. Einige werden vielleicht wissen, dass dieser Tropfen das europäische Großmächtefass zum überlaufen brachte.
Inhalt
Mehr als die Hälfte der Post wird für die Berichterstattung zum Attentat benutzt. Einen Sport- oder Kulturteil findet man nicht, Wirtschaftsnachrichten sind nur knapp. Vielleicht muss die Abendausgabe einer zweimal täglich erscheinenden Zeitung das auch nicht bringen.
Man schmunzelt bei einigen Nachrichten, die sich im Rückblick als irrig erweisen. Diese hier zum Beispiel:
Im Oktober 1914 gab es keine Deutschen Kolonien mehr, in die man Arbeitervertreter schicken konnte. Sie waren schon alle erobert worden. Pustekuchen mit „Zukunftsmöglichkeiten“. Nur in Ostafrika erwiesen sich die Schutzgruppen noch bis 1918 als überraschend zähe Widerständler. Sie fochten einen Guerillakrieg der so lange dauerte wie die Kämpfe in Europa. Stoff für einen Film übrigens. Und zu allem Überfluss dann noch diese Nachricht: Ein holländischer Dampfer ist gestrandet. Spektakuläre Unfälle haben Nachrichtenwert, auch wenn der erste Weltkrieg vor der Tür steht.
Haptik
Die meisten Menschen liegen unter der Erde bevor sie 100 Jahre alt werden.. Hier muss man nur etwas vorsichtig umblättern. Blut ist dicker als Wasser, aber Tinte bei nur mittelmäßiger Lagerung immer noch haltbarer als Blut. Pro Seite drei Zeilen Text; keine Fotos. Jenseits des Titelblatts sind die Überschriften auch in dieses Schema gequetscht. Fraktur verlangsamt den ungeübten Lesefluss.
Trotzdem ist dieser beidseitig bedruckte Bogen Papier in seiner schlichten Art überaus hübsch und bedienungsfreundlich. Nur ist meine Lesebiographie von Zeitschriften wie Limit geprägt. Das erschwert die Lektüre der Post etwas.
Verdikt
Zwar wird die Neuigkeit des Attentats auf Franz Ferdinand Ferdinand umfassend behandelt, aber von Krieg ist keine Sprache. Der „Landeschef von Bosnien“ glaubte an einen Einzeltäter. Europa war noch ein Sommermonat der Waffenruhe gegönnt. Erst dann gab es ein Ultimatum, die einzelnen Bündnisse griffen und die Lawine der gegenseitigen Kriegserklärungen brach los.
Der Käufer der Post würde an diesem Juniabend vielleicht noch auf der Bank oder vor dem Haus sitzenbleiben, rauchen, mit anderen darüber sprechen, sicher auch von Krieg. Die Zeiten waren so. Einige gingen – auch das steht in dieser Zeitung – im Mob gegen serbische Vereine vor. Mit etwas Vorstellungskraft vernimmt man zwischen den Zeilen schon das böse Dröhnen der Kriegsmaschinerie. Aber auch in der späten Kaiserzeit der Lauf der Geschichte nicht so schnell, wie es die Tagespresse glauben machen wollte.